HAU 2: 17. / 18. April, 20 Uhr

DI cia. de dança

»Verhaltensweisen eines Scheinfüßchens – Die Choreografie«
Pseudopodus / Scheinfüßchen: Eine Studie über die Möglichkeiten der Interaktion im Tanz

Europäische Erstaufführung
Publikumsgespräch: 18. April, im Anschluss an die Vorstellung

Scheinfüßchen dienen nicht immer der Fortbewegung. Mit ihren Scheinfüßchen umschließt eine Amöbe ihre Beute und verleibt sie sich ein. Angeregt von diesem Phänomen führten wir eine Reihe von Experimenten über die spielerische Beziehung von Bewegung, Objekt und Körper durch. Wir begannen 2002 mit der „Verhaltensstudie I“. Darauf folgte 2005 die „Verhaltensstudie II“ und schließlich die „Auswertung“ der Studie 2006. Für die Choreografie „Verhaltensweisen eines Scheinfüßchens“, die 2008 entstand, untersuchten wir drei Aspekte:

  • Die Konstruktion der Virtuosität
  • Das Spielerische
  • Prinzipien der Subjektivität bei Bildern

Zu jedem Aspekt kamen Fragen auf:

  1. Wie verwendet man Virtuosität in seiner Arbeit, ohne dass sie die Vorgänge vereinnahmt oder zum Selbstzweck wird? Kann Virtuosität fehlerhaft sein? Oder ist sie dann nicht mehr virtuos? Ist beim B-Boying beispielsweise Virtuosität für die Bewegung konstitutiv und nicht bloß eine Eigenschaft der Bewegung?
  2. Ist das Spielerische eine subjektiv wahrgenommene Atmosphäre, eine Stimmung? Oder besteht das Spielerische in der konkreten Bewegung – und ist physisch und objektiv? Entsteht nicht wechselseitig das eine aus dem anderen? Ist der Ball ein Gegenstand, der den Verlauf des Spiels bestimmt? Und welche Bedeutung haben andere Gegenstände auf der Bühne? Warum sollte ein Ball im Schaffensprozess fruchtbarer sein als andere Gegenstände?
  3. Wie werden Bilder in choreographische und nicht rein visuelle Elemente umgesetzt? Wie erreicht man Veränderung durch ein ästhetisches Detail, das zwar winzig sein mag, in seinem politischen, ethischen und nicht zuletzt ästhetischem Kontext jedoch ausschlaggebend ist?

Diese Fragen gaben uns Anhaltspunke, die für den szenischen Schaffensprozess sehr hilfreich waren. So erkannten wir die Notwendigkeit einer freieren Form des Tanzes, die nicht zwanghaft Bedeutungen produziert. Poesie sollte in jeder Handlung und Interaktion liegen. Förderlich wäre auch ein gewisser Minimalismus, der sich absetzt vom westlichen Übereifer, die Wirkung des Zusammenspiels der Körper oder der tatsächlichen Abwesenheit eines Zusammenspiels stets zur Schau zu stellen, spektakulär, glanzvoll, aber immer auch frivol. Diese Überheblichkeit möchten wir aufgeben und stattdessen den Schaffensprozess sichtbar machen. Ihn dem Voyeurismus der Beobachtenden aussetzen. Bei den Außenstehenden den Wunsch wecken, ungesehen teilzuhaben.

Auf diese Weise könnte der Tanz in seiner Intimität fortbestehen, in seiner ganz privaten Orgie, oder einfach in seinem Spiel – auch auf der Bühne!

Ein Rollstuhl kann ein Auto sein, das einen Unfall baut. Ein Surfbrett kann als physiotherapeutisches Hilfsmittel verwendet werden. Oder als Drachenflieger, dank dem alle Ärgernisse in weite Ferne rücken. Das Objekt wird seines ursprünglichen Verwendungszwecks enthoben: Der Rollstuhl ist nicht mehr vornehmlich ein Sitz, auf dem man sich fortbewegen kann. Die Verwendungsmöglichkeiten eines Boards erweitern sich beträchtlich, wenn man nicht mehr nur darauf steht und surft oder skatet. Eine Fußballgrätsche kann zu einem choreographischen Element werden oder auch nicht.

Der Bruch mit dem ursprünglichen Verwendungszweck von Objekten und Gesten verhalf uns zu neuen Bewegungsformen. Abheben, sich weit entfernen: Das Objekt kleidet sich als Metapher und ermöglicht damit eine neue Dimension des Kontakts, eine Verschiebung mittels radikaler, unvoreingenommener Handhabung. Fliegen kann man auf einem Rollstuhl, mit einem Ball, auf einem Board. Oder auf einem alten Reifen, von dem die gesamte Truppe den Sprung mit dem Fallschirm wagt.
Die von Choreographin Taís Vieira angeregte Scheinfüßchen-Studie eröffnete dem Choreographen Paulo Azevedo neue Möglichkeiten des szenischen Schaffens. Aus den vorangehenden Arbeitsschritten des Projekts ist nun ein etwa 50-minütiger Choreografie-Remix entstanden. Ein Impuls für neue Bedeutungen, Musikalitäten und Interaktionen. Objekte und Körper treten in fortlaufende Interaktion. Sie werden zu gleichzeitigen Beobachtern und Teilnehmern eines Spiels, das bei jeder Kontaktaufnahme bis zum Äußersten geht, ohne die Beziehung zwischen den Beteiligten auf bestimmte Formen festzulegen.

Choreografie: Paulo Azevedo / Pädagogin und Produktion: Dilma Negreiros / Beratung und Kritik: Taís Vieira / Probenleitung: Ariana Mota / Interpreten: Aline Negreiros, Ariana Mota, Éverton Viana, Jonas Leonardo, Maurício de Muros, Rafael Mata, Renato Mota und Taís Santos / Soundtrack: Felippe Xyu / Licht: Felippe Xyu / Vídeo: Filipe Itagiba

DI cia. de dança

Paulo Azevedo (Macaé) – Magister in Sozialpolitik, Abschluss in Sportwissenschaft. Er ist Leiter der Compagnien Membros Cia de dança und DI cia. de dança, sowie des Integrierten Zentrums für Studien der Hip Hop-Bewegung (CIEM-h2) und Gründer der Schule Dança de Rua Paulo Azevedo (Paulo Azevedo Schule für Street Dance). Seine Forschungen widmet er u.a. der Methodologie der Arbeit mit Tänzern mit und ohne Behinderung und der Kulturpolitik für brasilianische Jugendliche. Seine Veröffentlichungen sind „Dança de Rua – contador de histórias" (Straßentänzer – Geschichtenerzähler), „A Descoberta de Talentos nas Escolas Municipais de Macaé" (Die Entdeckung von Talenten in den Gemeindeschulen von Macaé), „Dança de Rua: uma pesquisa de socialização" (Straßentanz: eine Sozialisationsstudie) und “Meninos que não criam permanecem no C.R.I.A.M.”.

Dilma Negreiros (Macaé) – Tänzerin, seit 1999 Produzentin des Tanzensembles DI. Seit 2005 pädagogische Leiterin und Produzentin des Forschungszentrums für Hip Hop CIEM.h2. Zurzeit Aufbaustudium in Unternehmenspädagogik.